Cover
Titel
Wann, wenn nicht jetzt. Das Frauenhaus in Zürich


Autor(en)
Caprez, Christina
Erschienen
Zürich 2022: Limmat Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
von
Lina Gafner, Institut für Medizingeschichte, Universität Bern

Beauftragt wurde Christina Caprez, gemeinsam mit Liliane Studer, Lektorin und Mitgründerin des Berner Frauenhauses und Susan A. Peter, die mit dem Zürcher Haus seit den 1980er Jahren eng verbunden ist. Die Arbeitsgruppe rund um die Autorin zu erwähnen, liegt nach der Lektüre nah. Denn das Buch erzählt davon, wie die kollektive Arbeitsweise und der solidarische Zusammenhalt den Geist des Frauenhauses seit den Anfängen prägen und es durch vier ereignis- und konfliktreiche Jahrzehnte hindurch getragen haben. Und es macht spürbar, was die Arbeit und das Leben im Frauenhaus den vielen engagierten Frauen wie auch den Gewaltbetroffenen abverlangte und schenkte.

Der erste und umfangreichste Teil des Buches, «Geschichte», arbeitet das Werden des Zürcher Frauenhauses detailreich auf. Als das Thema «Gewalt an Frauen und Kindern» in den späten 1970er Jahren auf die Agenda der Frauenbefreiungsbewegung (FBB) kam, nahm die Geschichte ihren Anfang. Dabei standen in der FBB die «Realos», die durch praktische Abhilfe wie Beratung und Schutzräume den Betroffenen beistehen wollten, den «Radikalen» gegenüber, denen dieses Vorgehen zu staatsnah war. Das Verhältnis zum Staat blieb über die Jahrzehnte eine spannungsgeladene Frage für jene Frauen, die den pragmatischen Weg wählten, einen Verein gründeten, zuerst eine Wohnung und später ein Haus auftrieben, um gewaltbetroffene Frauen und ihre Kinder unterzubringen. Das Projekt war auf staatliche Mittel angewiesen. Zudem brauchte es eine enge Zusammenarbeit mit den Behörden, um mit den gewaltbetroffenen Frauen tragende Lösungen für ihre Zukunft zu finden. Im Frauenhaus entstandenes Wissen führte so auch zu einer Sensibilisierung der Behörden im Umgang mit «Männergewalt», die später – aus gleichstellungspolitischen Gründen – in «häusliche Gewalt» umbenannt wurde.

In den Stiftungsrat holten die Frauen des Gründungsvereins einflussreiche Frauen aus allen politischen Lagern und schufen damit beste Voraussetzungen für die Lobbyarbeit wie auch für eine wachsende Präsenz der Thematik im öffentlichen Diskurs. Die breite politische Allianz forderte das gegenseitige Verständnis zwischen den an der Basis engagierten autonomen Feministinnen und den Stiftungsrätinnen in strategischen Fragen immer wieder heraus. Gemeinsam die von der Stadt Zürich zur Verfügung gestellte, dreckige Wohnung zu putzen, schweisste zusammen und die unterschiedlichen Positionen lösten sich vorübergehend im Putzessig auf.

Unterschiedliche Positionen und Realitäten – diese Thematik zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und legt Konfliktlinien offen: Bezahlte Tagmitarbeiterinnen standen unbezahlten «Nachtfrauen» gegenüber, die unter ganz anderen Vorzeichen arbeiteten. Migrantinnen warfen den Schweizerinnen in den 1990er Jahren vor, für ihre eigenen rassistischen Vorurteile und Verhaltensweisen blind zu sein. Aber auch das Verhältnis zwischen Mitarbeiterinnen und Schutzsuchenden war nicht immer einfach und veränderte sich über die Jahre: Zu Beginn bestanden die Mitarbeiterinnen auf einem Zusammenleben wie in einer WG und einer Beziehung auf Augenhöhe zu den Betroffenen. In den 1980er Jahren brachten Sozialarbeiterinnen ein neues Verständnis von Gewaltbeziehungen mit und pochten auf professionelle Distanz.

Über die vierzig Jahre hat sich die Situation auf gesetzlicher Ebene für Gewaltbetroffene verbessert. Es ist gelungen, das Bewusstsein um die Existenz von Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Gesellschaft zu verankern, die Behörden sind sensibilisiert und Täter werden in Lernprogramme geschickt. Doch die Frauenhäuser sind weit davon entfernt, ihr Ziel der Überflüssigkeit zu erreichen. Zudem ist die Situation je nach Gemeinde und Kanton ganz unterschiedlich. Hier lässt das Buch leider oftmals offen, ob sich eine Aussage auf die gesamte Schweiz, auf den Kanton oder die Stadt Zürich bezieht.

Der zweite Teil, «Erfahrungen», ergänzt die bis hier erzählte «Geschichte» mit Erfahrungsberichten mehrerer Gewaltbetroffener: eines Polizisten, einer Opferanwältin, einer Staatsanwältin, und eines Sozialarbeiters für Gewaltprävention. So manches, was die Leserin nach dem ersten Teil des Buches für sich eingeordnet glaubte, gewinnt nun an Komplexität. Sei es in Berichten aus der juristischen Praxis, aus der Polizeiarbeit oder auch wenn ein Mitarbeiter der Gewaltprävention aus der Täterarbeit berichtet: Offenbar hilft es den Männern, wenn sie vor einem Gewaltausbruch eine kühle Kosten-Nutzen-Bilanz machen und sich fragen: bringt es mich an mein Ziel, wenn ich zuschlage, oder kostet es mich am Ende mehr, als es mir nützt? Diese Seite zu sehen, fällt nicht leicht. Doch gewinnt die vorher kennengelernte Parteilichkeit des Frauenhauses damit auch an Gewicht, denn die Geborgenheit, die dieser Raum bietet, ist nur möglich, weil die Gewaltbetroffenen dort auf Mitarbeiterinnen treffen, die klar und konsequent für sie Partei ergreifen. Der dritte Teil, «Hintergrund», liest sich nach den «Erfahrungen» etwas schwer, weil er einen ganz anderen Ton anschlägt: Hier kommen Fachwissen und rechtliche Grundlage zur Sprache und runden den Jubiläumsband zum Handbuch ab.

Die Arbeitsgruppe rund um Cristina Caprez hat ein packendes und sorgfältig konzipiertes Buch erarbeitet. Zwei oft schwer vereinbare Bewegungen finden hier wie selbstverständlich zueinander: die feinsinnige Analyse historischen Materials verschränkt sich mit der Würdigung eines grossen Erfolgs der Frauenbewegung. Und hier drängt sich der Singular auf, weil sich in dem von Frauen für Frauen geschaffenen Raum die Generationen zwar ablösen, aber die Erzählung verbindet sie mit einem Faden, der in keinem Moment reissen will. Auch der Umgang mit den eingeflochtenen Quellenausschnitten oder Zitaten ist leicht und schnörkellos. Nur der Titel ist leider etwas wenig sprechend und austauschbar, weil dieses Zitat aus dem Talmud schon in so vielen Kontexten verwendet worden ist – von Primo Levi über John F. Kennedy bis zu Rio Reiser. Aber es ruft zum unerschrockenen Widerstand gegen etwas, was unbesiegbar scheint – und ist damit doch auch wieder passend.

Zitierweise:
Gafner, Lina: Rezension zu: Caprez, Christina: Wann, wenn nicht jetzt. Das Frauenhaus in Zürich, Zürich 2022. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 73(2), 2023, S. 231-233. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00127>.

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